Geschichten aus dem Märchenland: Asexualität und Vorurteile

Asexualität scheint trotz der postulierten Aufgeklärtheit des 21. Jahrhunderts nach wie vor von Außenstehenden als eine Art Provokation und eklatanter Makel wahrgenommen zu werden. Kein Wunder, dass sich im Märchenland zahlreiche Mythen und Vorurteile zur asexuellen Orientierung festgesetzt haben.

 

1. Asexuelle Menschen ekeln sich vor Sex.

Falsch! Antisexuell eingestellte Menschen ekeln sich vor Sexualität. Asexuell zu sein bedeutet lediglich, keine sexuelle Anziehung zu anderen Individuen zu verspüren und das ganz ohne Leidensdruck.

 

2. Asexualität ist das Resultat vergangener schlechter Erfahrungen.

In diesem Argument schwingt der hoffnungsvolle Unterton mit, man könne Asexuelle durch eine gekonnte Performance im Bett doch noch vom Wert der Sexualität überzeugen. Asexualität schließt vergangene schlechte Erfahrungen mit Sexualpartnern zwar nicht aus, weil viele Asexuelle ihre Orientierung zunächst nicht wahrhaben wollen und sich zum Sex ‚zwingen‘, ist aber nicht durch diese Erfahrungen bedingt. Unter asexuellen Menschen befinden sich auch einige, die noch nie in ihrem Leben Sex hatten.

 

3. Asexualität ist mit dem katholischen Zölibat vergleichbar.

Obwohl es dazu keine offiziellen Statistiken gibt, dürften sich unter Asexuellen genauso viele Atheisten finden wie unter sexuellen Menschen. Das Zölibat setzt eine bewusste Willensentscheidung zugunsten eines enthaltsamen Lebensentwurfs voraus, wogegen man Asexualität nicht mit einem Lifestyle vergleichen kann, denn die sexuelle Orientierung lässt sich nicht durch Willensanstrengung beeinflussen.

 

4. Asexuelle verdrängen ihre Sexualität lediglich.

Asexuelle Menschen verdrängen ihre Sexualität genauso wenig, wie heterosexuelle Menschen ihre nicht vorhandene Homosexualität verdrängen. Der Wunsch nach sexuellen Kontakten mit anderen Menschen ist bei ihnen nicht im schlafenden Unterbewusstsein verborgen. Dort schlummert überhaupt kein Wunsch nach sexueller Interaktion, den man hervorkitzeln könnte.

 

5. Asexuelle Menschen funktionieren nicht richtig.

Allein das Wort funktionieren verbietet sich im Zusammenhang mit Lebewesen. Wer dennoch davon ausgeht, dass Asexuelle aufgrund anatomischer/hormoneller Abweichungen von der Norm nicht zu einem partnerschaftlichen Sexualleben fähig sind, muss diese Überzeugung begraben. Asexuelle verspüren keinen Wunsch nach einem sexuellen Intimleben, obwohl sie rein anatomisch gesehen dazu in der Lage wären, Sex zu haben.

 

6. Asexualität ist nur eine Phase.

Asexualität ist eine sexuelle Orientierung wie Hetero- und Homosexualität, keine Phase. Sie bleibt dauerhaft bestehen und lässt sich nicht ändern – nein, auch durch Sex nicht! Man sollte Asexualität nicht mit den als Durststrecken empfundenen Phasen einer sexuellen Beziehung vergleichen, in der auch den beteiligten Sexuellen die Lust auf ein Stelldichein vergeht.

 

7. Wie kann man etwas ablehnen, was man nicht ausprobiert hat?

Natürlich ist es möglich, auch ohne sexuelle Erfahrung zu dem Schluss zu kommen, asexuell zu sein. Oder hat jemand festgelegt, dass man sich erst dann homo/heterosexuell nennen kann, wenn die andere sexuelle Orientierung ausprobiert und nach gründlichen Tests ausgeschlossen werden konnte? Man könnte auch andersherum fragen: Wie kann ein sexueller Mensch etwas wollen, was er (bis zum ersten Mal) noch nie ausprobiert hat?

 

8. Asexuelle schämen sich für ihren Körper/ihr Aussehen und verweigern deswegen den Sex.

Dieses häufig vorgebrachte Vorurteil geht absurderweise davon aus, dass alle sexuell aktiven Menschen unweigerlich zu den Anwärtern auf den nächsten Mr./Mrs.-World-Titel zählen und restlos zufrieden mit ihrem Körper sind, während alle Asexuellen dementsprechend unglücklich und hässlich zu sein haben. Die körperliche Attraktivität ist aber nicht ausschlaggebend für die Identifikation mit einer sexuellen Orientierung, das gilt sowohl für Hetero- und Homosexualität als auch für Asexualität.

 

9. Wer masturbiert, kann nicht asexuell sein!

Doch, kann er. Die Libido ist bei asexuellen Menschen, übrigens genau wie bei Sexuellen, unterschiedlich ausgeprägt und einige Asexuelle verspüren dieses sexuelle Bedürfnis. Masturbation beinhaltet allerdings das Ausleben der eigenen Sexualität mit sich selbst und bedeutet deswegen nicht zwangsläufig, dass sich diese Menschen auch sexuelle Interaktion mit einem Partner wünschen. Zumal es auch Sexuelle gibt, die nicht masturbieren und deswegen nicht gleich zu Asexuellen werden.

 

10. Asexuelle haben den richtigen Partner einfach noch nicht gefunden!

Auch der Traumprinz in strahlender Ritterrüstung oder die Traumprinzessin könnten die sexuelle Lustlosigkeit eines asexuellen Menschen nicht ändern. Das liegt daran, dass ein funktionierendes Sexualleben für Asexuelle keinen Gradmesser für eine intakte Beziehung darstellt und sie nur dann sexuell aktiv würden, wenn es nichts an ihrem Partner mehr auszusetzen gäbe. Stattdessen favorisieren sie es, ihrem Partner auf andere Weise mitzuteilen, welche Gefühle sie für ihn empfinden. Seit wann ist Sex die einzige Möglichkeit, seinen Partner spüren zu lassen, dass man ihn liebt? Dann dürfte es so etwas wie Küsse, Umarmungen und Händchenhalten gar nicht geben.

 

11. Asexuelle wurden in ihrer Kindheit missbraucht und konnten deswegen keine 'normale Sexualität' aufbauen.

Zuerst einmal stellt sich bei dieser Unterstellung, die wie so viele darauf abzielt, Asexualität zu pathologisieren, die Frage, was man denn unter einer 'normalen' Sexualität zu verstehen hat. Höchstwahrscheinlich diejenige, die der Untersteller selbst für normal hält. Nicht jeder asexuelle Mensch wurde prinzipiell als Kind missbraucht, ebensowenig wie jeder sexuelle Mensch als Kind nicht missbraucht worden ist. Als Gegenargument könnte man zudem anführen, dass es Menschen gibt, die trotz Missbrauchserfahrungen ihre Sexualität aufgebaut haben und diese ausleben können. Natürlich kann auch ein Opfer von kindlichem Missbrauch sich als asexuell identifizieren. Oder sind nur Menschen ohne Traumata in der Lage, ihre Gefühle richtig einordnen zu können?

 

12. Asexuelle verpassen die 'schönste Nebensache der Welt'!

Wer hat diese unsinnige Formulierung denn erfunden und Sexualität zur 'schönsten Nebensache der Welt' erhoben? Zweifelsohne die Sexuellen, weil sie Sex eben als schön empfinden. Wer Sex allerdings nicht genießen kann, weil er für ihn ohne sexuelle Anziehung zum Partner lediglich ein monotoner, rein mechanischer Akt wäre, der wird wohl kaum eine lohnende Erfahrung verpassen.

 

13. Asexuelle verwechseln ihre Lustlosigkeit mit Depressionen.

Gut gebrüllt, Löwe! Eine verringerte Libido kann in der Tat Folge einer Depression sein. Wer allerdings auch vor der Depression keine Libido besessen hat, kann sie durch eine Depression auch nicht verloren haben. Es ist also nicht jeder, der mit einem in der Horizontale ausgeführten Löwentänzchen nichts anfangen kann, gleich depressiv.

 

14. Asexuelle halten sich für 'reiner' und 'besser'.

Elitedenken unter Asexuellen ist kaum vorhanden. Schließlich ist Asexualität keine Leistung, auf die man stolz sein könnte, sondern eine sexuelle Orientierung. Sie hat auch nichts mit Selbstkontrolle im Rahmen einer fanatischen Religion zu tun, die Jungfräulichkeit vor der Ehe vorschreibt und dies mit dem Argument der Unschuld und Reinheit zu verteidigen versucht. Umgekehrt gibt es wohl nicht wenige sexuelle Menschen, die sich mit ihrem regen Sexualleben brüsten und kernige Storys aus dem Nähkästchen zum Besten geben, um cool vor ihren Freunden zu wirken.

 

15. Asexualität ist unnatürlich.

Asexualität ist ein Phänomen, das sich sowohl bei Menschen als auch im Tierreich beobachten lässt und Tiere gelten ja im Allgemeinen als natürlich, oder? Wer von dieser Position aus argumentiert, trägt genau das gleiche verstaubte Moralkorsett, das Homosexualität als widernatürlich erachtet. Und wer außer dogmatischen Kirchenvätern möchte im 21. Jahrhundert zugeben, noch so kleinkariert und verbohrt zu denken?

 

16. Asexuelle sind verkopfte Asketen und haben keinen Spaß am Leben.

Der Gebrauch des Gehirns hat bei asexuellen Menschen nicht dazu geführt, dass sie vor lauter Bangigkeit und Verstocktheit das eigene Lustzentrum abgeschaltet hätten. Wie wir bereits gelernt haben, geht das erstens nicht und zweitens schließen sich Asexualität und prinzipielle Genussfähigkeit in keinster Weise aus. Asexuelle können aus genügend Ressourcen schöpfen, um das Leben zu genießen, nur partnerschaftliche Sexualität gehört nicht dazu. Und wer wollte ernsthaft behaupten, dass Sexualität alleine das Leben lebenswert machen kann?

 

17. Asexualität ist durch konservative Erziehung antrainiert wurden.

Seit wann ist es möglich, durch irgendeine Art von Erziehung die angeborene sexuelle Orientierung eines Menschen ändern zu können? Dann könnte man heterosexuelle Menschen beliebig in Homosexuelle umwandeln und umgekehrt. Asexualität hat nichts mit Prüderie, mangelnder Offenheit und einem konservativen Lebensstil zu tun. Tatsächlich ist die sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau, gekrönt von einer kirchlich abgesegneten Trauung, wohl konservativer, als es so manch einer gerne zugeben würde. Und man könnte sich auch fragen, ob nicht im Gegenzug die heutige Übersexualisierung mit ihrem Sexzwang und dem medialen Sexhype den Menschen antrainiert worden ist.

 

Siku, Kari

Kommentar schreiben

Kommentare: 7
  • #1

    bet (Freitag, 04 Dezember 2015 18:43)

    Ich hab diese website zufällig erwischt, als ich nach asexualität und aromantik gegoogelt hab. Ziemlich neu, oder?

  • #2

    bet (Freitag, 04 Dezember 2015 18:47)

    Den Text finde ich btw sehr gelungen!

  • #3

    Aaron (Freitag, 04 Dezember 2015 19:51)

    Guter Artikel!

  • #4

    Luna (Samstag, 05 Dezember 2015 01:30)

    Endlich weist auch mal jemand darauf hin, dass Asexuelle das nicht wegen ihrem Image sind. Da es heute als cool gilt, Sex zu haben müsste man das besser andersrum machen. Ich kenne ein paar Asexuelle, die hatten nur Sex um dazuzugehören...

  • #5

    Siku (Samstag, 05 Dezember 2015 07:28)

    Zu bet: Ja, die Website ist relativ neu. Die Seite ist erst seit dem 30. November online.

    Das mit dem besonders sein wollen oder dem guten Image wahren ist sowieso ein Argument, das an den Haaren herbeigezogen ist. Mit Asexualität fällt man nämlich meistens zunächst eher negativ auf und muss sich dann einem Berg von Vorurteilen stellen. Hoffentlich wird es diesen Rechtfertigungsdruck für jegliche sexuelle Orientierung irgendwann nicht mehr geben.

  • #6

    Mara (Mittwoch, 09 Dezember 2015 13:16)


    Sehr schön zusammengefasst!

  • #7

    Julia (Dienstag, 12 Januar 2016 10:56)

    Ich möchte noch ergänzen: "Asexualität ist eine Reaktion auf eine übersexualisierte Welt, eine Protesthaltung gegen die Freie Liebe der 1968er", ähnelt dem "Konservativ"-Vorwurf, beinhaltet aber auch ein kleines bisschen 68er-Bashing. Nein, ich möchte nicht von gesellschaftlich Konservativen vereinnahmt werden!
    Was man auch, der größeren Komplexität zuliebe (sofern das nicht überfordernd wirkt) hinzufügen könnte: es gibt Asexuelle, die hatten Geschlechtsverkehr, freiwillig, fanden ihn nicht mal schlecht, haben aber dennoch kein Bedürfnis, dieses Erlebnis zu wiederholen. Krass, wa?!
    Mal abgesehen von den Ausprägungen im asexuellen Spektrum wie Demisexualität und Lithsexualität etc.