Keine Schmetterlinge im Bauch

Romantische Liebe ist omnipräsent. Sie durchflutet die Handlung von Büchern, zaubert Klischees auf die Leinwände und setzt sich als Idealvorstellung im Kopf romantischer Menschen fest. Gegen den heutigen Liebeskult wäre nichts einzuwenden, würde er nicht wie eine Lawine über diejenigen hinweg rollen, die mit romantischen Liebesgefühlen wenig am Hut haben: Aromantiker*

 

Paare sind die Regel, Singles die Ausnahmeerscheinung. Das ist die Kernaussage, die jedem alleinstehenden Menschen wie ein Mantra immer wieder ins Gedächtnis gerufen wird. Kaum ein Mythos überstrahlt die Gegenwart so sehr wie der Leitstern der romantischen, einzig wahren und für die Ewigkeit gemachten Liebe. Ob auf der nächsten Familienfeier oder beim gemütlichen Kinoabend mit Freund*en: Wer dauerhaft alleine lebt, kann sich auf das beharrliche Nachhaken seines Umfelds und kontinuierliche Rechtfertigungen einstellen, warum er* einem partner*losen Lebensentwurf den Vorzug gibt.

 

Schlimmstenfalls sind ungewollte Verkupplungsversuche abzuschmettern. Dabei sind diese oftmals gut gemeint und die Logik hinter dem vermeintlich unterstützenden Verhalten ist schnell erklärt: das singuläre Leben gilt als potentielle Quelle zermürbenden Dauerfrusts und wird als defizitär wahrgenommen. Wirklich erfüllend ist in der amatonormativen Gesellschaft nur die romantische Zweierbeziehung. Wo romantische Liebe zum sinnstiftenden Element, gar zur alles verschlingenden Norm geworden ist, kann ihr Ausbleiben nur eine mindere Lebensqualität und einen bedauernswerten Mangel bezeichnen.

 

Doch nicht jeder Mensch hat amouröse Intentionen. Aromantiker* zweifeln den omnipotenten Mythos des antiken Kugelmenschen an, der stets auf der Suche nach seiner zweiten Hälfte ist.(1) Sie stellen sich gegen den Zwang zur Verpartner*ung und behaupten: Nicht jeder Single ist ein bedauernswertes Mängelwesen. Damit nicht genug, ist das singuläre Leben erstrebenswert und dauerhaft gewünscht! Ein Leben lang Single, ganz ohne Leidensdruck.

 

Aromantische Menschen benötigen keinen romantischen Partner*, um sich vollständig zu fühlen. Sie brauchen niemanden, der ihnen zeigt, wie schön der Austausch romantischer Zärtlichkeiten in einer Liebesbeziehung sein kann, weil es für sie nicht schön wäre. Sie müssen nicht durch Liebe von ihrem „bemitleidenswerten Single-Dasein" erlöst werden – jeder Versuch würde scheitern. Denn Aromantiker*n fehlt die Fähigkeit, Schmetterlinge im eigenen Bauch zu züchten.

 

Ist das Sich-Verlieben-Können nicht fest in jedem Menschen verankert? Personen, die sich nicht in andere Menschen verlieben, müssen gefühllose Roboter sein! Vielleicht sogar Aliens? Gibt es dagegen ein Medikament?

 

Wer sich als aromantisch outet, erntet in vielen Fällen ähnlich verständnislose, mitleidige oder offen feindliche Reaktionen, gespickt mit dem Ratschlag, diese „Macke“ schnellstens bei einem Therapeuten* behandeln zu lassen. Doch es braucht keinen Gang zu einer psychiatrischen Einrichtung, damit dort wieder gerade gerückt wird, was immer schon gerade war. Keine schlechten Beziehungserfahrungen, keine Traumata, keine ungelösten Kindheitskonflikte oder Probleme mit der sexuellen Identität, dem eigenen Erscheinungsbild und dem Selbstbewusstsein müssen dafür verantwortlich sein, wenn jemand fühlt, dass er keinen Partner* braucht, um im Leben glücklich zu sein.

 

Aromantik, das ist keine bewusste Entscheidung, sondern eine romantische Orientierung, die das fehlende Verspüren romantischer Anziehung gegenüber anderen Individuen bezeichnet. Die emotionalen Bedürfnisse aromantischer Personen können auf platonische Weise befriedigt werden. Es ist ein Irrglauben, dass Aromantiker* immer auch asexuell sind und umgekehrt, dass jeder Asexuelle* sich mit Aromantik identifizieren kann. Es gibt aromantische Menschen, die sich sexuelle Kontakte zu anderen wünschen. Genauso gibt es Aromantiker*, die  nicht einmal Händchenhalten wollen.

 

Wichtig ist es, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Aromantik nicht mit Antiromantik gleichzusetzen ist. Aromantiker* wollen weder ein kollektives Pärchen- und Liebesverbot durchsetzen noch andere mit ihrer Weltsicht missionieren. Es gibt nur einen Grund für die aromantische Kritik an der amatonormativen Liebesideologie: Sie lässt keinen Platz für Aromantiker* und suggeriert, diese romantische Orientierung sei nicht existent und in ihrer Andersartigkeit pathologisch.

 

Ein weiteres Vorurteil, mit dem aromantische Menschen konfrontiert werden, ist das Stigma einer Bindungs- oder Persönlichkeitsstörung. Wer sich nicht verlieben kann, gilt als gefühlskalter Psychopath, dem es an Empathie für seine* Mitmenschen mangelt. Wer sexuelle Kontakte ohne romantische Verbindlichkeit eingeht, muss sich von anderen als egoistischer Schwerenöter* verschmähen lassen, der* sich nicht festlegen will. Auch wenn das Bild des eisigen menschlichen Aromantik-Roboters nach wie vor in der Öffentlichkeit gezeichnet wird, es ist falsch! Die Fähigkeit, sich verlieben zu können, sollte nicht mit allgemeiner Liebes- und Emotionsfähigkeit verwechselt werden. Innige Freund*schaften und enge emotionale Bindungen können auch von aromantischen Individuen eingegangen werden.

 

Für viele Aromantiker* wäre es daher begrüßenswert, Freund*schaften insgesamt als eine soziale Beziehungskategorie höher zu werten. Ihnen kommt eine Schlüsselrolle in der Lebenswelt aromantischer Menschen zu. Sie sind das nichtromantische Äquivalent zu den romantischen Zweierbeziehungen der anderen. Der Vielfalt zwischenmenschlicher Beziehungskonzepte jenseits der romantischen Norm sind keine Grenzen gesetzt. Genau wie romantische Partner*schaften sind sie individuell leb- und verhandelbar.

 

Der Beitrag schließt daher mit einem Plädoyer für die Freund*schaft: Sie ist immer genau das, was zwei beteiligte Menschen daraus machen und in keinster Weise lediglich auf unverbindliches, oberflächliches und lockeres Entertainment verpflichtet, das weit hinter der Intensität einer romantischen Liebesbeziehung zurücksteht. Für Aromantiker* nimmt Freund*schaft in der Beziehungshierarchie den höchsten Rang ein. Sie sind über jeden Menschen dankbar, der dieses Emotionsverständnis mit ihnen teilt und sie nicht aufs Abstellgleis weit hinter dem Lebenspartner* und den Kindern verfrachtet.

 

(1) Kugelmenschen sind mythische Wesen der Antike, die einst eine Zusammensetzung zweier Elemente (rein männlich, rein weiblich oder androgyn) darstellten und auf der Suche nach ihrer zweiten Hälfte sind, um die ehemalige Einheit wiederherzustellen. Die angestrebte Verschmelzung mit dem verlorenen Seelenverwandten wird als höchstes Glück angesehen, das einem Menschen widerfahren kann. Der von Platon im Symposion erwähnte Mythos dient zur Illustration des erotischen Begehrens, kann aber ebenso auf das romantische Verlangen nach einem Partner übertragen werden.

 

Glossar

 

Amatonormativität: Die Annahme, dass eine exklusive romantische Paarbeziehung ein universelles Ziel aller Menschen ist. Diese Art der Zweierbeziehung wird als anderen Beziehungsformen überlegen angesehen.

 

Aromantik: Aromantik ist eine romantische Orientierung, die das fehlende Verspüren romantischer Anziehung gegenüber anderen Individuen bezeichnet. Die emotionalen Bedürfnisse aromantischer Personen können auf platonische Weise befriedigt werden. Amouröse Intentionen sind Aromantiker*n fremd, weshalb aus einer aromantischen Orientierung oftmals auch ein mangelnder Wunsch zum Initiieren romantischer Partnerschaften resultiert – dennoch können sich auch aromantische Menschen in romantischen Beziehungen wiederfinden.

 

Siku

Erschienen als Gastbeitrag in der  Queerulant_in (Novemberausgabe 2016).

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Kommentare: 5
  • #1

    Ana (Freitag, 30 Dezember 2016 17:10)

    Habe diesen Artikel und den Blog und bin sehr froh darüber. Und erleichtert nicht alleine zu sein.

  • #2

    Ana (Freitag, 30 Dezember 2016 17:12)

    *durch Zufall gefunden

  • #3

    Julia (Mittwoch, 11 Januar 2017 10:46)

    Schöner Artikel, ich kann das gar nicht oft genug lesen....
    Ein paar Anmerkungen aus persönlicher Erfahrung zur Ergänzung:
    Ich kenne das, dass bei Familienfesten zwar nicht nach "Und? Wie ist es bei dir???" gefragt, wird, aber eben auch nicht nach nicht-romantischen Neuigkeiten: Beruf, Hobby, womit man sich sonst so beschäftigt, Meinung zu Trump.... - wenn es keine Beziehungsnews gibt, gibt es einfach gar nichts zu berichten. Basta.
    Und dann: Mir fällt immer weder auf, wie selbstverständlich Amatonormativität ist, wie sehr wir alle angehalten sind, das normal zu finden, und uns (Aromantiker_innen) selbst unnormal: Freundinnen, die im Beisein und unter Ausschluss der Single-Freundinnen Pärchenabende verabreden. Freunde, die gar keine Zeit mehr haben, da sie "natürlich" was mit der (romantischen) Freundin unternehmen. Eltern, die einer vorwerfen, man könne sich nicht über "normale" Dinge unterhalten, weil man eben bestimmtes romantisches Verhalten nicht einfach nur "normal" findet und Abweichungen von dem Skript "komisch". Die Ratlosigkeit, wie man auf die Bemerkungen der Oma antworten soll, dass man "ja auf dem Weihnachtsmarkt gar keinen Mann hatte, der einen warm hält". Oder solche Versicherungen verpartnerter Freundinnen, dass diese ihr Singleleben ja auch so genossen hätten. Als wäre es ein Urlaub, den man in vollen Zügen genießt, bis der Alltag einen wieder einholt und nicht das ganz alltägliche Leben. Und auch, ja, die Scham, die man insgeheim trotz besseren Wissens verspürt, dass man dafür keineswegs Verständnis hat, weil es nämlich weh tut. Es tut richtig weh, wenn man ständig durch solche winzigen, oft nicht mal böse oder auch nur ernst gemeinten Bemerkungen aufs Brot geschmiert bekommt, wie unnormal, mehr noch: irreal man eigentlich ist. Aromantischen Liebeskummer, gibt's das eigentlich?

  • #4

    Siku (Dienstag, 17 Januar 2017 20:24)

    Freut mich, dass dir der Artikel gefallen hat. Was du berichtest, kommt mir nur allzu bekannt vor...

    Zu deiner letzten Frage: Darüber habe ich mir ehrlich gesagt noch nie Gedanken gemacht, ein sehr interessantes Thema. Da Liebeskummer im Wesentlichen eine Trauerreaktion ist, ist meiner Meinung nach jeder Mensch dazu fähig, auch Aromantiker. Immer vorausgesetzt natürlich, dass der Begriff Liebe weitgefasst wird und sich nicht ausschließlich auf romantische Partnerschaftsbeziehungen bezieht. Man kann sich z.B. auch nach Freunden sehnen und diese stark vermissen bzw. unter einer Trennung von diesen leiden.
    Gemäß der Theorie, dass für viele Aromantiker Freundschaften einen herausgehobenen Stellenwert in ihren Sozialbeziehungen haben, dürfte der Kummer über eine zerbrochene Freundschaft sogar ganz besonders schwerwiegend ausfallen und damit dem "romantischen" Liebeskummer vergleichbar sein.

  • #5

    Deixis (Samstag, 28 Januar 2017 09:25)

    Danke für diesen Text. Ich habe ihn mit Freude gelesen und würde mir so sehr wünschen, dass die Repräsentation von Aromantik kontinuierlich zunimmt und irgendwann auch im Mainstream ankommt. Es würde aromantischen Menschen vieles erleichtern und den Makel des "Andersseins" nehmen.
    Am meisten schockiert mich das Bild, dass viele romantische Menschen von uns haben, wir gelten als unmenschlich, autistisch, als Psychopathen und verschrobene prüde Jungfern...seufz. Daran muss sich im angeblich so aufgeklärten und tabulosen 21. Jahrhundert dringend etwas ändern!